Wir haben nicht gestört – WIR WAREN EINE BEREICHERUNG.
Liebe Leserin, lieber Leser,
am 27. und 28. November 2023 hat der LAG-Fachkongress „Inklusion ist Mehrwert“ in den Design Offices in Hamburg-Hammerbrook stattgefunden.
Neben Podiumsdiskussionen, Fachvorträgen und Ausstellungen, waren Menschen in historischen Kostümen anzutreffen.
Das waren wir, die Minotauren!
Mehrere Wochen haben wir uns auf die zwei Kongresstage vorbereitet. Vieles war für uns neu und ungewohnt.
Es war unser erster Auftritt auf einem Kongress und ein „sitzendes Publikum“, wie wir es aus vergangenen Aufführungen kannten, gab es nicht.
Auf dem LAG-Kongress – veranstaltet von der LAG-WfbM Hamburg – kamen viele verschiedene Menschen aus ganz Deutschland zusammen. Mit dabei waren Werkstattbeschäftigte, Werkstattfunktionäre, Werkstattangestellte, Menschen aus „der Wirtschaft“, Politiker:innen, Pressevertreter:innen und viele mehr.
Es drehte sich alles um einen offenen Dialog über Teilhabe, beruflicher Bildung und Arbeit für Menschen mit Behinderung.
Die Teilnehmer*innen eilten von Fachvortrag zu Diskussionen und wieder weiter zum nächsten Vortrag.
Damit sie zwischen Erdgeschoss und 9. Stock nicht die Orientierung verlieren würden, nahmen wir uns der Aufgabe an, Ihnen charmant die Wege zu zeigen und für Fragen jeglicher Art Rede und Antwort zu stehen.
Mit Fremden Kontakt aufnehmen. In den Dialog gehen. Auf uns aufmerksam machen. Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Die stressigen Kongresstage künstlerisch mitgestalten. Dies nahmen wir uns vor.
Um diese neue Herausforderung zu meistern haben wir bei uns in der „Wiese“ viel geprobt und mutig herumexperimentiert.
Wir hatten gelegentlich ein mulmiges Gefühl. Fragen nach der Reaktion der Kongressteilnehmer*innen auf unsere Erscheinung wurden geäußert.
Allerdings gefiel uns der kreative Freiraum bei der Rollengestaltung.
Wir haben uns vor den Kongresstagen in unseren Kostümen auf den Wiesendamm, also in die Öffentlichkeit gewagt und konnten auf diese Weise erste Erfahrungen sammeln.
So gelang es uns, Hemmungen vor Kontaktaufnahmen sowie die Angst vor ablehnenden Haltungen und negativen Kommentaren abzubauen.
Wir lernten auch damit umzugehen. (Thorsten V.)
Aber eine Frage blieb noch:
Wie würden wir es schaffen, Menschen konsequent mit Freundlichkeit und Komplimenten zu begegnen?
Wir ließen uns dafür von dem britischen Schauspieler und Stand-Up-Comedian Milo McCabe und dessen Figur Troy Hawke inspirieren.
Für den Kongress erarbeiteten wir zudem eine Performance, gemeinsam mit der Tanzgruppe „here we are“ und der Band „Camera Obscura“ von barner 16.
Auch diese Arbeit bedeutete in dieser Form eine neue Erfahrung für uns.
Obwohl uns die Probenbedingungen mit über 20 Künstler:innen in einem Raum viel Geduld abverlangt haben, waren wir hochkonzentriert (Cordelia).
Bereits beim ersten gemeinsamen Treffen im Bunker konnten wir erahnen, dass die Zusammenarbeit Früchte tragen würde. Wir begegneten uns auf Augenhöhe. Wir fühlten uns wohl.
Auch das Mitentscheiden und Gehört-werden während der Probentage vermittelte uns dieses Gefühl. Die Bewegungen harmonisierten mit Musik und gesprochener Sprache.
Dabei wechselten sich die Kunstformen in der Führungsrolle ab. Wir waren manchmal selbst überrascht, welche Verbindungen und Ideen entstehen konnten. Wie verschiedene Elemente aufeinander reagieren, individuell existieren aber auch gleichzeitig Teil eines großen Ganzen sind.
Die Vorbereitungen waren aufregend! Wir konnten während der Bewegungseinheiten an unserer Körperlichkeit als Schauspieler*innen arbeiten und uns beim Sprechen selbst geschriebener Texte über das Thema Inklusion künstlerisch entfalten.
Wir meisterten es innerhalb von vier gemeinsamen Probentagen, eine 20-minütige Performance auf die Bühne zu bringen.
Am 27. und 28. November war es dann so weit. Der Kongress stand vor der Tür!
Nach der Generalprobe am Freitag und einem Erforschen der (räumlichen) Möglichkeiten und Grenzen der Design-Offices, standen wir nun erneut am Eingang.
Die Vorfreude war groß!
Wir schlüpften in unsere Kostüme, stärkten uns mit einer Tasse Kaffee und los ging es. Am ersten Tag trafen die Kongressteilnehmer*innen zum ersten Mal in den Design-Offices ein.
Dies bedeutete für uns: Achtung! – viel Orientierungslosigkeit und Verwirrung. „Lasset die Spiele beginnen.“ Oder besser gesagt: „Lasset die „Walking-Acts“ beginnen.“
Ob Ritter, Charmeur oder Butler wir begrüßten und zeigten Wege. Ja, die ersten Stunden waren durchaus turbulent, aber alle waren sich einig:
Wir kamen an, zogen uns um und waren direkt in unserer Rolle. (René)
Im Verlauf der zwei Tage fanden wir immer mehr in unsere Rollen und Aufgaben und wurden cleverer mit der Wegbeschreibung (Thorsten V.).
Die Bedenken, auf Fragen nicht immer eine Antwort zu wissen, legten wir immer mehr ab.
Es ging auch darum, den ein oder anderen komischen Blick von sich abfallen zu lassen (Thorsten V.).
Aber auch die selbständige Einschätzung der eigenen Kraftreserven und das damit verbundene eigenständige Einhalten von Pausen gehörte zu den „Walking-Acts“ dazu“ (Reinhard).
Die Teilnehmer*innen fanden sich mit der Zeit besser zurecht und dies gab uns die Möglichkeit in unseren Rollen neue Dinge auszuprobieren.
Wir fingen an spontan und mit mehr Leichtigkeit zu agieren (Cordelia).
Mutiger zu werden, die kreative Freiheit zu nutzen – das war nun die Aufgabe.
Wir kreierten Standbilder und nahmen Posen ein. Im Kostüm einen Tee trinken, umherlaufen, Podiumsdiskussionen beiwohnen, Mikrofone übergeben, sich ausruhen, klönen, ins Gespräch kommen.
René meint: Am Fahrstuhl den Leuten den Weg zu zeigen hat mir sehr gefallen. Ich mochte es den ein oder anderen lustigen Spruch zu äußern und gefilmt zu werden.
Wir fühlten uns wohl und die Anerkennung und netten Komplimente für die Kostüme haben etwas in einem ausgelöst (Cordelia).
Man fiel gar nicht mehr so auf, konnte sich untermischen unter die „Normalen“ (Thorsten Vahl).
Wir haben uns die Tage immer mehr an unser Kostüm gewöhnt – man wollte es gar nicht mehr ausziehen (Cordelia).
Die beiden Performance-Auftritte rückten näher. Wir kamen gut an. Am zweiten Tag war die Arena voll!
Sich gegenseitig unterstützen, ergänzen und zusammen etwas erschaffen. Über eine zukünftige Zusammenarbeit mit „here we are“ und „Camera Obscura“ würden wir uns sehr freuen (Reinhard).
Die Zuschauer*innen werden unsere Performance hoffentlich nicht allzu schnell vergessenen. Eigene Lebenserfahrungen wurden durch die Sprache Teil des Auftrittes. Textzeilen wie:
„Wir sind Menschen, nicht nur eine Krankheit.“
Und:
„Das verstehst du sowieso nicht. Du brauchst dafür sicher länger. Das kannst du nicht. Du bist dumm. Nicht normal. Fremd. Übersehen. Du passt hier nicht rein. Systemsprenger.“
Diese Sätze werden allen Beteiligten bestimmt noch lange Zeit in den Köpfen bleiben.
Ein weiterer Höhepunkt bestand in den Auftritten, besser gesagt, den Erscheinungen der beiden „Fussels“.
„Fussel“ ist ein Kunstprojekt der Hamburger Künstler:innen Katharina Oberlik und David Chotjewitz, die uns dankenswerterweise die Kostüme zur Verfügung gestellt hatten.
„Fussel“ ist nicht von dieser Welt.
„Fussel“ kann nicht sprechen, kann kaum etwas sehen und sieht sich häufig mit Ablehnung und abweisenden Sprüchen konfrontiert – obwohl es sich eigentlich nur nach Liebe sehnt und immer für eine wirkliche Umarmung „zu haben ist“.
Ein Kunst-Konzept, das aus unserer Sicht ideal in den Kontext des Kongresses passte.
Neben den „Walking-Acts“ und der Performance gab es auch noch zwei Fachvorträge, an denen einige von uns Minotauren beteiligt waren.
Dabei stellten wir unsere Kompanie vor und kamen über das Thema „Inklusion in der Kunst“ ins Gespräch.
Wir sind mit Menschen, aus völlig anderen Werkstatt-Kontexten in den Dialog gekommen. Es war ein tolles Miteinander!
Zu guter Letzt bewies auch Reinhard Lagrains Auftritt auf dem „Roten Sofa“, dass wir eine super Ergänzung waren. Reinhard hat uns bestens repräsentiert und eine Menge kluger Worte gesprochen.
Wir sind stolz auf ihn und auf uns!
Die zwei Tage auf dem LAG-Kongress boten uns eine Erfahrung von unschätzbarem Wert.
Wir sind dankbar, ein Teil davon gewesen zu sein!
Danke für die Verpflegung und eine Atmosphäre in der man sich wohlfühlen konnte.
Es war schön, dass uns eine Plattform geboten wurde, um mit Teilnehmer*innen in lockere Gespräche zu kommen, sich aber auch intensiv über das Werkstattsystem unterhalten zu können.
Für uns war vieles, was gesagt wurde persönlich und emotional (Bailey). Umso wichtiger ist es aber, dass über Inklusion gesprochen wird. Man muss noch mehr hinschauen und man darf keine Menschen vergessen. Daran müssen wir uns erinnern.
Für uns war der LAG-Kongress eine Möglichkeit unsere Meinung zu sagen, gehört und gesehen zu werden (Mattes).
Und um zu zeigen: „Ich störe nicht – Ich bin eine Bereicherung!“
Geschrieben von Louisa in Zusammenarbeit mit den Minotauren.
Die kursiven Textstellen sind Originalzitate der Schauspieler:innen.
Fotos von Lea Kottek und Lise Esmann.
Momentan planen wir neue Termine. Schaue bald wieder vorbei!